Der Change der Change-Formel

Ruth Seliger, Februar 2023

Kann man komplexe Veränderungsprozesse eines sozialen Systems – einer Organisation, einer Gesellschaft – in einer mathematischen Formel darstellen? Muss so eine Formel nicht unterkomplex sein, dem Thema nicht gerecht werden?

Die Change-Formel ist sehr einfach. Sie ist ein Versuch, in komplexen Prozessen ein paar Haltegriffe anzubieten. Sie ist ein Tool, nicht mehr und nicht weniger. Aber sie ist ein Tool, das es in jeder Hinsicht „in sich“ hat. Denn hinter jedem Element der Formel stehen Theorien und Konzepte.

Die Change-Formel wurde seit ihrer „Erfindung“ in den 60er Jahren immer wieder neu definiert und spiegelt damit selbst die Veränderungen, die vor allem die Beratung seither vollzogen hat, wider.

Die Change-Formel im Zeitalter des Taylorismus

Die 60er Jahre waren die Zeit der Massenproduktion und des „Scientific Management“: alles wurde gemessen, optimiert und effizienter. Das betraf auch Veränderungsprozesse. Es ist nicht überraschend, dass Change in eine Formel gebracht wurde, die eine Kosten-Nutzen-Rechnung darstellt, also eine ökonomische Logik hat. David Gleicher, Berater bei Arthur D. Little, entwarf diese erste Form der Change-Formel (1). Sie lautete:

C = A x B x D > X

Ausformuliert bedeutet das:

Change (C) = (gelingt), wenn die Faktoren „Unbehagen“ (A), ein „gewünschter Zustand“ (B) und konkrete Schritte zu diesem gewünschten Zustand (D) größer sind als die Kosten der Veränderung (X). Die drei Faktoren werden miteinander multipliziert, so dass, wenn ein Faktor Null ist, die Gesamtsumme Null wird. Nicht in die Rechnung einbezogen war die Frage, welche Kosten durch Stillstand, Nicht-Veränderung entstehen könnten.

Die Change-Formel in der Zeit der Organisationsentwicklung

In den 80er begann sich die Aufmerksamkeit der Berater:innen und des Management auf soziale Prozesse zwischen den Mitarbeiter:innen zu richten: Psychologie und Gruppendynamik gewannen an Bedeutung. Change-Prozessen lag die Annahme zugrunde, dass Veränderungen gelingen, wenn Menschen sich zunächst verändern und wenn ihre Beziehungen sich verändern. Psychologische Kategorien wie Zufriedenheit oder Widerstand gelangten in den Alltag von Organisationen, aus Personalverrechnung wurde Personalentwicklung. Menschen sollten „entwickelt“ werden.

In diesen Jahren griffen Kathy Dannemiller und ihre Partner von Dannemiller Tyson Ass. die Change-Formel auf und veränderten sie (2). Der Kosten-Nutzen-Aspekt verschwand und wurde durch einen Faktor ersetzt, der aus der Psychoanalyse und der Gruppendynamik stammt: der „Widerstand“. Das Gelingen von Veränderung wurde dem Überwinden von Widerstand gegen die Veränderung unterstellt. Dahinter steht die – psychoanalytische – Konzeption, dass Veränderung, Entwicklung immer auf den Widerstand der Beharrung trifft. Der Fokus der neuen Change-Formel war daher darauf gerichtet, die Kräfte der Veränderung einem Veränderungs-Widerstand gegenüber zu stellen. Die Formal sagt: der Widerstand gegen Veränderung muss kleiner sein als die treibenden Faktoren der Veränderung. Dabei übernehmen Dannemiller Tyson die Faktoren von Gleicher (mit anderen Buchstaben), und stellen ihnen den Widerstand gegenüber.

D x V x F > R

Das bedeutet:
D: Driver (Treiber der Veränderung, das gemeinsame Unbehagen), mal
V: einer Vision, einem gewünschten Zustand, mal
F: First steps, erste Schritte zu diesem Zustand sind größer als
R: Resistance

Auch hier werden die Faktoren durch ein Malzeichen verbunden, um anzuzeigen, dass das Fehlen eines Faktors alles auf Null setzt.

Diese Formel wurde für Dannemiller Tyson Ass. das Grundgerüst bei der Planung von großen Change-Prozessen und dem Design von Großgruppen, an deren Entwicklung sie ebenfalls großen Anteil hatten.

Die Change-Formel in der systemischen Beratung

Im Jahr 1999 lud ich einen der Partner von Dannemiller Tyson, Paul Tolchinsky, für einen Workshop über Großgruppen ein. Er wurde später Kooperationspartner und brachte viel Expertise in die Firma ein. Durch ihn lernte ich die Change-Formel kennen. Ich fand sie sehr hilfreich, aber irgendetwas störte mich.

In meiner systemischen Ausbildung bei Fritz B. Simon und Gunthard Weber wurde mein bis dahin stark psychoanalytisch-gruppendynamisches Grundgerüst meiner Arbeit als Beraterin fundamental erschüttert. Das aus dieser Logik stammende Modell des „Widerstands“ passt gar nicht in die systemische Sicht von Menschen, sozialen Beziehungen, Lernen und Veränderung. Widerstand ist gar kein Thema in der systemischen Theorie. Aus systemischer Sicht geht es bei Veränderungen nicht darum, Widerstände zu überwinden, sondern Energie zu mobilisieren, denn Veränderungen kosten viel Kraft und alle lebenden Systeme verfügen über Energie, sonst wären sie ja tot.

Im Jahr 2000 machte ich eine Ausbildung über „Appreciative Inquriy“ bei Diana Whitney und David Cooperrider. Der radikal ressourcenorientierte Ansatz prägte in der Folge meine Arbeit. Das „R“ für „resistance“ war für mich inkompatibel mit dem systemischen Veränderungskonzept. Ich habe diesem „R“ einen neuen Inhalt gegeben: „Ressourcen“. Aus dem alten „R“ wurde ein „E“ – für „Energie“. Denn Energie ist alles, was lebende Systeme gemeinsam haben: die Energie des Lebens. Und jede Veränderung kostet Energie und braucht Energie: mehr Veränderungsenergie als Beharrungsenergie.

In langen und fruchtbaren Diskussionen mit meinem Kollegen und Freund Paul Tolchinsky habe ich schließlich aus der Change-Formel von Dannemiller Tyson eine neue Change-Formel entwickelt. Sie sieht jetzt so aus:

D (Driver) x V (Vision) x R (Ressourcen) x F (First steps) = E (Energie).

Ich bin Paul Tolchinsky für seine Bereitschaft, „seine“ alte Formel zu verändern, sehr dankbar.

Mit dieser Formel arbeite ich seit über 20 Jahren in praktisch jedem Veränderungsprozess. Die Formel bewährt sich sowohl in der Gestaltung der Prozesse, als auch zur „Diagnose“, wenn die Veränderungsenergie absinkt: Was fehlt? Wissen wir nicht mehr, was einmal unser Driver war? Haben wir unsere Vision aus den Augen verloren? Fehlt uns das Bewusstsein, Ressourcen zur Verfügung zu haben? Wissen wir nicht, wohin wir uns als erstes wenden sollen? Mit diesen Analysen kann man schnell wieder Energie mobilisieren.

Was bedeutet das für Transformation?

Die Change-Formel ist eine Methode, Veränderungen in Organisationen zu strukturieren. Sie eignet sich aber auch zur Bearbeitung größerer gesellschaftlicher Transformationen. Wir haben es derzeit unleugbar mit einer Reihe tiefer Brüche zu tun: unser Weltbild, unser Selbstbild in der Welt, unsere Form des Wirtschaftens – von der Produktion über den Handel bis zum Konsum –, unserer Werte und Sehnsüchte. Die Change-Formel ist ein hilfreicher Kompass in diesen komplexen Bewegungen:

D: ein Gefühl der Dringlichkeit herstellen

Durch die Brille der Change-Formel betrachtet kann man erkennen, dass sehr viel Energie in die „Treiber“ der Veränderung gesteckt wurde und wird: Beobachtung und Erklärungen der Problemlagen und die Kommunikations- und Überzeugungsanstrengungen etwa durch Klimaaktivist:innen, Ökonom:innen, die auf die großen Ungleichheiten in der Verteilung von Reichtum und Wohlstand hinweisen oder die Gefährdungen der Demokratie durch Rechtspopulisten und richtige Faschisten.

Vielfach ist der „Sense of Urgency“ (John P. Kotter) in vielen Teilen der Gesellschaft bereits angekommen, viele beteiligen sich am Prozess der Transformation. Viele gilt es noch zu informieren, zu überzeugen und zu gewinnen.

Jetzt geht es darum, Zuversicht zu entfalten.

V: Vor allem die Zivilgesellschaft arbeitet daran, neue Zukunftsbilder und neue Geschichten – Narrative – zu entwickeln und zu erzählen. So widmen sich zunehmend viele Medien dem Thema „Zuversicht“: der Österreichische Rundfunk bot über viele Wochen eine Sendereihe über die „Reparatur der Zukunft“ mit vielen Beispielen gelungener Transformationen an, der Wiener Stadtzeitung „Falter“ bringt Beispiele von Gemeinden, die sich mit ihren Bürgermeister:innen auf den Weg machen. Diese Geschichte werden erzählt und geben Mut.

R: Der Blick auf vorhandenen Ressourcen, Chancen und Potentiale zeigt sich in den zunehmenden Zusammenschlüssen in der Zivilgesellschaft, wie soeben in Österreich der Zusammenschluss von NGO’s zu einer Plattform, um mehr Gewicht zu haben. Aber auch die Ressource „Wissenschaft“, die Ressourcen von neuen Modellen, wie etwa der Bürgerrät:innen, werden genützt.

F: Die nächsten Schritte werden schon lange Zeit an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gesetzt. Sie zu vernetzen, neue Allianzen einzugehen, Bündnispartnerschaften auch zu „Anderen“ zu gestalten, ist der notwendige Schritt, um Transformationsprozesse in eine Richtung der „guten Zukunft“ für alle zu bringen.

Neugierig? Wollen Sie wissen, wie das in der Praxis funktioniert? Im Lehrgang „Leading Transformation“ können Sie es selbst erfahren. 

Herzlichst,

Ruth Seliger

(1) https://en.wikipedia.org/wiki/Formula_for_change
(2) Dannemiller Tyson Associates: Whole Scale Change Toolkit. Berrett-Koehler Pbl, San Francisco 2000, S. 10 f.