© Banksy

Brüche, Sprünge, Brücken – Das ist Transformation

Ruth Seliger, März 2023

„There is a crack in everything, that’s how the light gets in“, Leonard Cohen

Es sind tektonische Verschiebungen der Kontinentalplatten. Die Erde bebt unter den Füßen. Häuser, in denen man sicher leben konnte, stürzen ein. Straßen, auf denen man noch gestern dahinfahren konnte, zerreißen vor unseren Augen.
Die Erde bebt. Der gesellschaftliche Boden bebt ebenfalls. Was uns bisher Sicherheit gegeben hat, zerbricht, alte Gewissheiten bekommen tiefe Risse.

Was bricht gerade?

Risse in der Haut der Gesellschaft
Risse zeigen sich an der Oberfläche: Umweltzerstörung, Artensterben, Bankenkrise, politischer Rechtsruck, Krieg. Diese Risse sind für uns alle erkennbar und spürbar. Es sind die Verursacher dieser Risse, die sich gegen Veränderungen wehren, denn Veränderung würde für sie Verluste bedeuten. Daher setzen sie auf „innovative“ Lösungen, auf Heftpflaster, die man auf einen tiefen Schnitt klebt. Diese Risse gehen zwar tief, sie tun auch weh, aber sie sind nur ein Symptom für tiefer liegende Risse.

Risse, die unter die Haut gehen
Etwas tiefer und nicht sofort erkennbar sind die Risse unter der Haut der Gesellschaft: Brüche in sozialen Beziehungen, die die digitalisierte Kommunikationstechnologie mit sich bringt: wir werden immer mehr zu einsamen Individuen(1). Es zerbricht der „Generationenvertrag“ der kontinuierlichen Steigerung von Wohlstand. Die Kinder sollten es einmal besser haben. Es entstehen Risse im gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine immer größer werdende Kluft von Arm und Reich. Unser bisheriges Orientierungssystem von Zeit und Raum zerbricht durch Globalisierung, technologische Kommunikation „in Echtzeit“, Reise- und Nachrichtentempo. Raum und Zeit verlieren an Bedeutung.

Die tiefen Risse in Geist und Seele der Gesellschaft
Noch viel tiefer sitzen Risse, die wir kaum als solche erkennen können. Sie betreffen unser Inneres: unser Selbstbild als Menschen, unser Weltbild, unsere Welterklärungen, unser Verständnis von Wahrheit und Sinn.

  • Unser Bild von uns selbst
    Wir Menschen – in der westlichen Welt – konstruieren uns seit langer Zeit als „Individuum“, als etwas „Unteilbares“, die letzte Einheit des Lebens. Wir sehen uns als ein Gegenüber von Natur und zu anderen Menschen. Wir verstehen uns als die objektiven Beobachter der Welt, die wir auch gestalten können, als wäre sie ein Objekt. Unser Selbstbild erfährt gerade tiefe Risse. Nicht zuletzt die ökologische Krise lehrt uns, dass wir nicht die unbeteiligten Beobachter/Nutznießer der natürlichen Welt sind, sondern deren Element, untrennbar mit ihr verbunden. Jede Epoche hat ihr spezifisches Selbstbild hervorgebracht. Wir haben uns selbst als Teil einer göttlichen Ordnung, als rationales und vernunftbegabtes Wesen oder – wie heute – ein nur sich selbst verpflichtetes Individuum konstruiert(2). Derzeit ist unser Selbstbild „under construction“, als Baustelle ohne Bauplan. Das zieht uns den Boden unter den Füßen weg.
  • Unser Bild von der Welt
    Unser – westliches – Bild von der Welt, in der wir leben, hat ebenfalls Risse bekommen. Die Natur, die uns als Gesellschaft umgibt und die wir gewohnheitsmäßig als unendliche Quelle von Ressourcen betrachten, zeigt uns Grenzen, Gegenwehr und unsere eigene Abhängigkeit. „Mach dir die Erde untertan“ – dieser Vorstellung geht Philipp Blom in seinem großartigen Buch „Die Unterwerfung“(3) nach und rekonstruiert die menschheitsgeschichtliche Veränderungen unseres Weltbildes.
  • Unser Wahrheitsbegriff
    Seit Jahrtausenden suchen wir nach Wahrheiten. Wir haben den Besitz der Wahrheit lange Zeit Göttern und Gott zugeschrieben. Wir haben den Wahrheitsbegriff an die Naturwissenschaft delegiert. Irgendwo müsste es doch eine letzte Wahrheit geben. Und wer sie „hat“, hat Macht und darf in ihrem Namen Kriege führen, Länder erobern, Menschen versklaven. Der Riss durch unser Wahrheits-Verständnis zeigt sich im Begriff von „Fakenews“, von Verschwörungsgeschichten und in der Legitimisierung von Lügen.

Diese drei (vermutlich könnte man noch viele anderen aufzählen) tiefen Risse in unsere Menschenseele sind deshalb so bedeutsam, weil sie ankündigen, dass sich jetzt alles ändert. Wir erleben einen Paradigmenwechsel. Transformation geht bis in diese Tiefe unseres Selbst-, Welt- und Wahrheitsbildes hinein. Das bisherige Paradigma hat für einen Teil der Welt Fortschritt und Wohlstand gebracht, uns aber auch an den Rand des Abgrunds geführt, vor dem wir stehen. Nur wenn wir den Sprung über diese Risse schaffen, haben wir als Menschheit eine Zukunft.

Der große Sprung

Es nützt nichts: wir werden springen müssen, wir werden unsere Angst überwinden und ohne genau zu wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet, einen Anlauf nehmen und springen. Es wird uns nicht helfen, an den oberflächlichen, sichtbaren Rissen anzusetzen. Wir müssen uns selbst – und damit unsere Welt – heilen.

  • Die Neukonstruktion von uns selbst und der Welt
    Der große Sprung über die Risse beginnt bei unserem Selbstbild und unserem Weltbild. Von unseren Selbstkonstruktionen hängt ab, wie wir handeln. Wir benötigen eine neue Theorie, die uns neue Erklärungen für die Beschaffenheit und Veränderungen unserer (Um-)Welt ermöglicht. Systemisches, oder besser: systemtheoretisches Denken ist der Beginn des Paradigmenwechsel. Systemtheoretisches Denken ist eine „ökologische Theorie“, die sich ausschließlich mit lebenden Systemen beschäftigt und die Grundoperationen lebender Systeme – von der Amöbe bis zur Gesellschaft – untersucht und dazu neue Bilder liefert. Wenn die Welt als lebender Organismus gesehen wird, ergeben sich auch neue Bilder von menschlichem Verhalten und Beziehungen, von Organisationen und Führung, von Gesellschaft und ihren Transformationen.
  • Neue strategische Allianzen eingehen
    Komplexe Transformationsprozesse kann man weder als Individuum, auch nicht als Organisationen, sondern als starke gesellschaftliche Bündnisse vollbringen. Gesellschaftliche Bruchlinien verlaufen nicht mehr (nur) in den „alten“ Unterschieden etwa von „Oben“ und „Unten“ oder von „Links“ und „Rechts“. Die ökologische Krise macht neue Bruchlinien und damit auch neue Allianzen und Bündnisse möglich. Wir sehen Plattformen, Netzwerke, Initiativen entstehen, die gemeinsam an Kraft gewinnen, wenn sie sich die gemeinsame Aufgabe der gesellschaftlichen Transformation stellen.

Brücken entstehen lassen

Der etwas abgenützte Satz, dass Wege im Gehen entstehen, trifft auch auf das Bilden von Brücken zu. Brücken über die großen gesellschaftlichen Risse können nicht zuerst gebaut und dann begangen werden, das wäre paradox. Aber die gemeinsame Anstrengung, über die Sprünge über die Risse nachzudenken, zu experimentieren, zu lernen, schafft die Brücken, über die man gehen oder springen möchte.

Also: Räume, geschaffen für gesellschaftlichen Diskurs, für Kommunikation und Kooperation, für Vernetzung von Menschen, Gruppen, Organisationen unterschiedlicher Bereiche der Gesellschaft sind die Orte, an denen Brücken entstehen.

Ich selbst habe mich entschieden, selbst zu einer Brückenbauerin zu werden. Dafür habe ich zwei Initiativen gesetzt:

  • Die Community for Change (communityforchange.at) ist ein Kontext für Diskurs, Lernen und Reflexion.
  • Der Lehrgang „Leading Transformation“ (seliger-consulting.net/leading-transformation) ist nicht nur ein Lernangebot an Menschen in Führungsfunktionen, die in oder mit ihren Organisationen in den Transformationsprozess einwirken (wollen), sondern auch als ein Kooperationsprojekt gedacht: Unternehmen können einen Platz im Lehrgang für eine NGO oder ein Nachhaltigkeitsprojekt sponsern und natürlich auch selbst an dem Lehrgang teilnehmen. So werden Wissens- und Aktionsbrücken gebaut, um den gemeinsamen Sprung zu wagen.

Wenn Sie Interesses haben, einen Lernplatz für ein Nachhaltigkeitsprojekt zu sponsern, dann kontaktieren Sie mich: ruth.seliger@seliger-consulting.net

Herzlichst,

Ruth Seliger