Der Prozess des Transformierens

Ruth Seliger, Juli 2023

Warum die Change-Formel nicht genügt

Die Change-Formel sei hilfreich, praktikabel, einfach und doch komplex. Tatsächlich ist die Change-Formel ein gutes und bewährtes Instrument zur Entwicklung von Strategien. Sie wird in Organisationen seit vielen Jahren verwendet. In meinem Buch „Systemische Beratung der Gesellschaft. Strategien für die Transformation“ versuche ich, dieses Modell auf gesellschaftliche Transformations-Prozesse anzuwenden, in der Hoffnung, ein sinnvolles Instrument zu bieten. In meinem Blog vom Februar habe ich das Modell zusammengefasst.

Die Change-Formel wird zitiert, kopiert, angewendet, weiterempfohlen. Das freut mich und schmeichelt mir, aber es macht mir auch Sorge. Die Change-Formel ist nicht von mir, ich habe sie lediglich weiterentwickelt und ausführlich beschrieben.

Wie bei allen Formeln und Modellen gilt: sie sind nur Landkarten, nur Werkzeuge, sie sind hochverdichtete komplexe Theorien. Wer die Theorie hinter den Modellen nicht kennt, dem nützt die Formel nichts, ja man kann damit auch Unfug und Verwirrung stiften. Denn Theorie liefert Erklärungen und hilft bei der Entscheidung, warum und auch wie, in welchem Kontext, in welcher Situation, unter welchen Bedingungen so eine Formel anzuwenden ist.

Das größere Bild der Change-Formel

Die Change-Formel beschreibt den Prozess des „Transformierens“. Das ist etwas anderes als der Prozess der „Transformation“. Der Unterschied liegt darin, dass das Nomen „Transformation“ suggeriert, dass es sich hier um einen „Gegen-Stand“, etwas „Dingliches“ handelt, das verändert wird, also ein Objekt, das Transformation „erleidet“. Transformieren ist dagegen ein Verb, es beschreibt Tätigkeiten und Aktivitäten, die von Menschen gesetzt werden. Ohne die Tätigkeiten von Menschen gibt es keine Prozesse und auch keine gesellschaftliche Transformation.

Der Prozess des Transformierens ist eine Abfolge von Handlungen, hinter denen Entscheidungen stehen, und hinter jeder Entscheidung liegt ein komplexes Gemisch von Motiven, Absichten, Bildern, Emotionen, Einsichten, Werten und Prinzipien, manchmal auch Wissen, Theorie und Erfahrung.

Wer Prozesse des Transformierens gestaltet und steuert, sollte die Grundlagen für die eigenen Entscheidungen kennen oder auch weiterentwickeln. Die Wirksamkeit des Handelns, so meine These, wird erhöht, wenn das Handeln theorie-fundiert ist und kontinuierlich reflektiert wird. Die Change-Formel wird erst dann wirkungsvoll, wenn sie in diese beiden Ebenen eingebettet ist: eine angemessene Theorie und eine Bereitschaft zur Reflexion.

Drei Ebenen von Transformations-Prozessen

1. Die Handlungsebene

Auf der Handlungsebene geht es um das konkrete Tun. Es beginnt mit dem Engagement von Personen, mit ihrer Energie. Die Handlungsebene soll so gestaltet sein, dass diese Energie im Laufe des Prozesses bestehen bleibt oder sogar noch verstärkt wird. Ohne Energie keine Handlungen. Ohne Handlungen kein Prozess. Ohne Prozess keine Transformation.

Die Change-Formel ist ein Modell, das diesem Ziel dienen soll: Energie für Transformation zu mobilisieren und zu erhalten. Das Modell ist wie Pfeil und Bogen, es besteht aus zwei Spannungen: Die eine ist der Spannungsbogen zwischen einer aktuellen Problemlage, die die Dringlichkeit der Veränderung zeigt, und einem Zukunftsbild, das anziehend ist wie ein Magnet. Die zweite Spannung entsteht durch die Stärke der Sehne auf der einen Seite und die Kraft des Schützen auf der anderen. Mit dieser Energie kann der Pfeil abgeschossen werden. Diese vier Themen, als Spannungen angeordnet, sind der Grundgedanke hinter der Change-Formel.

Aber Prozesse sind Handlungsabläufe, die nur hintereinander geschehen können. Daher können die einzelnen Themen auch nur schrittweise und nacheinander bearbeitet werden. Die Change-Formel wird daher als ein linearer Prozess dargestellt, der er aber nicht ist. Die Spannung ist immer wichtig und immer da.

Wie jedes Instrumente braucht auch die Change-Formel ein gutes Fundament, um die jeweiligen Entscheidungen zu unterfüttern und Orientierung zu geben. Die Theorie-Ebene liegt dem Handeln zugrunde und daher unterhalb der Handlungsebene.

2. Die Theorie-Ebene

Jede Entscheidung stützt sich auf Prämissen, Vorentscheidungen. Die Entscheidung, auf welche Prämissen man entscheidet, ist selbst eine Entscheidung. Entscheidungen können aus dem Bauch, aufgrund von Gewohnheit, aus moralischen Prinzipien heraus getroffen werden. Theorie und die Wahl der Theorie als Entscheidungs-Entscheidung ist keine schlechte Entscheidung (kennen Sie sich aus?).

Systemisches Denken ist aus mehreren Gründen eine gute Entscheidungsgrundlage im Zusammenhang mit Prozessen des Transformierens:

  • Sie beschäftigt sich mit den Lebensprozessen lebender Systeme und kann als „ökologische“ Theorie bezeichnet werden
  • Sie hat ein Maß an Komplexität, welche eine Bearbeitung komplexer Situationen und Fragestellungen möglich macht, angesichts der komplexen Krisensituation ist das besonders wichtig
  • Systemisches Denken ist aus unterschiedlichen Theorie-Feldern – Biologie, Psychologie, Soziologie, Gehirnforschung, Ökologie usw. – entstanden und bietet daher sehr viele unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, die Prozesse, auf Krisen

Systemisches Denken wurde und wird seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Praxisfeldern erprobt, wie in der Familientherapie, der Organisationsberatung oder Erziehung. Der von mir anvisierte Bereich ist das Feld der gesellschaftlichen Transformation.

Aus der systemischen Theorie heraus wurden eine Reihe von Modellen entwickelt, die für diese einzelnen Praxisfelder wichtig sind. Modelle geben einen schnellen Überblick, sind Verdichtungen, Landkarten, die der Orientierung im jeweiligen Praxisfeld dienen. In der Organisationsberatung sind dies Modelle von Kommunikation, von Organisation, Führung, Gesellschaft und der Veränderung lebender Systeme. Die Change-Formel ist so ein Modell, das auf Theorie aufgebaut ist, die man kennen sollte, um das Modell anzuwenden.

3. Die Reflexions-Ebene

Prozesse lebender Systeme finden in komplexen Gegebenheiten statt und sind selbst komplex. Einzelne Elemente wirken auf unvorhersehbare Weise aufeinander ein, wir erkennen einzelne Faktoren, was das „Ganze“ ist, ist nicht definiert. In diesen Prozessen kann man nur vorwärts kommen, wenn man immer wieder innehält, die bisherigen Ergebnisse betrachtet und bewertet, die eigene Aktivitäten und ihre Wirkungen reflektiert, neue Pläne schmiedet. Diese Reflexionsprozesse sind selbst komplex, denn in ihnen zeigen sich unterschiedliche „Mindsets“ der beteiligten Personen, ihre Haltungen, Erwartungen, Werte. Differenzen werden sichtbar, es kann zu Konflikten kommen, Kränkungen werden empfunden. Dennoch führt an diesen Reflexionen kein Weg vorbei. Wird auf dieser Ebenen keine gemeinsame Strategie gefunden, scheitern solche Prozesse daran, dass die Akteur:innen auseinandergehen, die Teams sich teilen, die Bewegung geschwächt wird.

Eingebettet in die beiden Ebenen sieht das größere Bild der Change-Formel so aus:

Modelle sind vereinfachte Theorie, sie sind Instrumente, die helfen sollen, sich in komplexen Kontexten und Prozessen sicherer zu bewegen. Die Change-Formel ist das Tool, das aber mit den beiden anderen Ebenen seine Wirkung entfaltet.

Viel Erfolg beim Prozess des Transformierens!

Ruth Seliger