Raus aus der Falle! Rein in die Transformation!

Ruth Seliger, August 2023

1. „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam“.

So lautet eine alte und bekannte chinesische Weisheit.

Als Beraterin und Begleiterin bei Veränderungs-Vorhaben von Organisationen habe ich erlebt, wie schmerzhaft die Erfahrung für die Führung war, dass ihr Wunsch nach kurzen Wegen und schnellen Lösungen kaum erfüllbar war. In der systemischen Beratung geht man davon aus, dass ohne die Veränderung der Muster im Denken (Mindsets) und Handeln (Entscheiden) eine tiefgreifende und nachhaltige Veränderung im System nicht möglich ist. Ohne die Reflexion der Muster können Reparaturen zwar Verbesserungen bewirken, aber die eigentlichen Probleme werden immer wieder entstehen, wenn die dahinter liegenden Muster nicht bearbeitet werden. Denn – um es mit den Worten von Rudi Wimmer zu sagen: in der systemischen Beratung sollen nicht nur Probleme gelöst werden, sondern die Organisation und ihre Führung soll auch lernen, wie sie ihre Probleme (Muster) immer wieder herstellt, dass sie also klüger wird. Und das dauert, das geht nicht so schnell. Wer (systemische) Beratung ins Haus holt, lässt sich (nolens volens) auf Verlangsamung und eine Erhöhung von Komplexität ein.

Das Angebot systemischer Organisations-Beratung ist es, bei diesem Lernprozess zu unterstützen. Sie baut Räume, Settings und Prozesse für gemeinsame Reflexion, um inne-zu-halten, zu ver-stehen, zu be-greifen. Die Organisation und ihre Führung begibt sich in einen gestalteten und geleiteten Prozess auf einen Weg der Selbstbeobachtung und des Lernens, in der/m neue Perspektiven, Zusammenhänge, Muster, Wechselwirkungen erkennbar, diskutierbar und veränderbar werden (können).

Obwohl Organisationen prinzipiell andere soziale Systeme sind als eine Gesellschaft, könnten doch – das ist meine Hypothese – ähnliche Phänomene erkennbar und nutzbar werden. Auch in Gesellschaften entwickeln sich Muster, die einer Veränderung im Weg stehen. Auch in einer Gesellschaft führt der Weg zur Transformation über den „Umweg“ der Reflexion, der Auseinandersetzung mit Mustern, etwa dem Umgang mit Veränderungen. Auch in einer Gesellschaft brauchen wir geeignete Räume, Settings und Methoden, um über diese Muster gemeinsam nachzudenken – und die dann auch zu verändern. Und das gilt auch angesichts drängender Probleme, wachsender Gefahren und Angst.

Es beginnt mit den Erklärungen, die wir für die Ursachen der Probleme und für deren Lösungen konstruieren

Unser Verhalten wird weniger von Fakten, sondern vielmehr von unseren Erklärungen bestimmt, die wir uns für diese Fakten konstruieren. Wir reagieren weniger darauf, wie wir die Welt wahrnehmen, sondern darauf, wie wir uns die Welt erklären. Das gilt für Individuen, für Organisationen und auch für die Gesellschaft. Grund genug, sich unsere eigenen gesellschaftlichen Erklärungen der Welt anzusehen.

Wir schleppen als (westliche) Gesellschaft eine Reihe von Prinzipien, Annahmen und Welterklärungen mit uns herum, die einmal wichtig, fortschrittlich und auch wertvoll waren, die sich heute aber, unter vollkommen veränderten Bedingungen, als dysfunktional und als Fallen erweisen und die am Sprung in die Zukunft hinderlich sind. Wenn wir diese tradierten und gewohnten alten Denk- und Verhaltensmuster unreflektiert auf gesellschaftliche Zukunftsgestaltung anwenden wollen, sitzen wir in der Falle. Deren gibt es einige.

  • Die Vernunft-Falle

Der Paradigmenwechsel von der mittelalterlichen Vorherrschaft der Kirche als Welterklärerin zu einer naturwissenschaftlichen Deutung der Welt begann im 15. Jahrhundert – „Kopernikanische Wende“ und Galileo Galilei – und führte in der Folge zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts, verbunden u.a. mit dem Namen Immanuel Kant. Das neue Menschenbild war das eines aufgeklärten, mit Vernunft ausgestatteten und daher eigenverantwortlichen Individuums. Man ging davon aus, dass die Welt nicht mehr durch Glauben, sondern mit Vernunft, Wissen und Logik verstanden und gestaltet werden könnte.

Die Welt des 18. Jahrhunderts war vermutlich weniger komplex als heute, sie war geordneter durch geregelte Herrschaftsformen und klar zugewiesene gesellschaftliche Rollen, sie veränderte sich langsamer. Heute leben wir in der VUCA-Welt. Neue Kommunikationsmedien, neue Produktionsformen, neue gesellschaftliche Zusammenschlüsse haben unsere Welt fundamental verändert. Die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen, Vieldeutigkeiten und Wechselwirkungen bringen vollkommen neue Weltbilder und Lebensprinzipien hervor.

Es zeigt sich, dass wir mit unseren bekannten Mitteln der Vernunft und Logik, diese komplexe Welt nicht mehr verstehen und schon gar nicht verändern können. Wir stoßen an Grenzen, die uns hindern, den Prozess der Transformation voranzutreiben, denn auch wir, die diese Veränderung wünschen und sich daran beteiligen, denken über die Zukunft mit den Instrumenten der Vergangenheit nach. Die Lehrpläne unseres Bildungssystems, das ja für die Zukunft vorbereiten soll, ist getragen vom naturwissenschaftlich-technischen Paradigma des 18. Jahrhunderts.

Und so appellieren wir in einer Situation des komplexen, tiefen und unerwarteten Wandels an die Vernunft, an die Einsicht, die „Eigenverantwortung“ der Individuen und wundern uns, dass das nicht funktioniert. Die Politik wagt es nicht, Entscheidungen zu treffen und setzt auf Freiwilligkeit des angeblich aufgeklärten Individuums. Und wir erklären jene, die sich nicht überzeugen lassen, zu verantwortungslosen, dummen Ignoranten.

Es tut weh zu erkennen, dass wir – die engagierten und kompetenten Menschen – dieselben Muster bedienen und damit zu einem Teil der Probleme werden, die wir lösen wollen.

Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?

  • Die Freiheits-Falle

Die moderne Demokratie ist untrennbar mit dem Begriff der Freiheit und der Gleichheit verbunden: Geboren als Kampfbegriff von Revolutionen gegen den herrschenden Adel, ist Freiheit bis heute ein hoher, unverzichtbarer Wert in unserer Gesellschaft. In modernen demokratischen Gesellschaften darf jedes Mitglied in „freien“ Wahlen seine Stimme einbringen. Jede Stimme zählt.

Das Prinzip von Demokratie ist aber ein anderes: Demokratie besteht in Begrenzungen von Freiheit. Zugunsten der Gesellschaft, des „Demos“, muss der Einzelne Begrenzungen seiner Macht respektieren, sich einschränken, Regeln einhalten und auf Handlungsoptionen verzichten. Und diesem Verzicht muss in einem demokratischen Prozess eine Mehrheit zustimmen.

Demokratie beruht auch auf dem Prinzip der Gleichheit (vor dem Gesetz und der Würde). Der Grundsatz der Gleichheit wird dann zum Problem, wenn alle Stimmen hinsichtlich gesellschaftlicher Problemstellungen als „gleich“ erachtet werden, wenn Mehrheitsentscheidungen über gesellschaftliche Herausforderungen bestimmen und damit Einzelinteressen denselben Wert haben wie Gemeinwohl.

Im öffentlichen Diskurs prallen diese Widersprüche und Gegensätze aneinander: „Freie Fahrt für freie Bürger“ versus „ein gutes Leben für alle“. Das Problem dabei ist, dass beide Seiten sich im Recht fühlen. Angesichts von Freiheit und Gleichheit sind gute Entscheidungen (für alle) kaum möglich. Es entstehen Zweifel an der demokratischen Ordnung und der Ruf nach dem berühmten „starken Mann“, der aus dieser Klemme heraushelfen soll, wird laut. Und auf der anderen Seite besteht große Scheu, an den derzeitigen Formen von Demokratie zu zweifeln, ohne sich gleich den Vorwurf, „rechts“ zu sein, einzuhandeln. Es leiden die demokratischen Kräfte daran, dass sie sich nicht die demokratische Freiheit nehmen, über Freiheit und Gleichheit, in Zeiten radikaler Umbrüche, nachzudenken. Und so werden die Feinde der Demokratie stärker.

Auch diese Erkenntnis schmerzt, wenn wir erkennen, dass wir mit unseren eigenen demokratischen Prinzipien die Demokratie zerstören. 

Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?

  • Die Gerechtigkeits-Falle

In früheren Jahrhunderten war es ein „natürlicher“ Teil der gesellschaftlichen Ordnung, dass es einigen gut geht, und anderen weniger. Dieser Unterschied wurde vor allem durch Geburt legitimiert. Die Rechtfertigung dieser Ordnung nennt man Ideologie.

Die Demokratisierung der Gesellschaft hat diese Prinzipien verändert: es soll allen Menschen gut gehen. Wohlstand ist ein Menschenrecht. Nur: auch hier tut sich eine Falle auf, eine ökonomisch-ökologische Falle.

Wohlstand für alle ist eine alte und berechtigte Forderung von sozialen Bewegungen. Es hat sich nur gezeigt, dass dort, wo Wohlstand einigermaßen gerecht verteilt ist, entstehen auf der anderen Seite Kosten bei Individuen, Gesellschaften, der Natur. Die Frage ist und bleibt, wer die Kosten trägt. Dann wird es schwierig mit dem Wohlstand für alle. Manche politischen Slogans wie der von der sozialen Marktwirtschaft oder der ökosozialen Wirtschaft sind Versuche, dieser Fall zu entgehen. Es ist ein Doublebind: man kann alles nur falsch machen. Wohlstand für alle bedeutet kein Wohlstand für alle.

Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?

  • Die Moral-Falle

Moral ist ein Set von Werten, das Verhalten in „gut“ und „böse“ unterscheidet. Moral und Werte verändern sich selbstverständlich immer. Diese Werte sind in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen und Bereichen keineswegs übereinstimmend, oft genug sind sie einander ausschließend und Anlass für Konflikte. Wertekonflikte sind aber kaum lösbar, denn sie sind Träger unserer Identität.

Aber das ist nicht die Falle. Die Moralfalle tut sich auf, wenn wir uns innerhalb einer als moralisch homogenen Gruppe – auch „Blase“ genannt – befinden, und plötzlich unvereinbare Moralwerte bedienen wollen. So ist etwa der feministischen Bewegung in Deutschland nach den großen Bewegungen von – überwiegend männlichen – Flüchtlingen aus dem Nahen Osten plötzlich bewusst geworden, dass Flüchtlingsrechte und Frauenrechte nicht (immer) vereinbar sind. Das war eine Falle. Oder der Wert der Gewaltfreiheit gegenüber dem Kampf gegen Gewalt von Kriegen. Oder die Ablehnung von Macht und Hierarchie und der geleichzeitige Wunsch, sich endlich gegen die beharrenden Kräfte durchzusetzen und „Die Macht der Konzerne zu brechen“ (attac). In der Machtfalle sitzen oftmals die Grünen, die basisdemokratisch und hierarchiefrei organisiert sind, und denen gerade von ihren Unterstützer:innen und Wähler:innen vorgeworfen wird, die Klimaziele oder das Klimagesetz nicht „durchgesetzt“ zu haben. Die Grünen können entweder die Werte der Basisdemokratie oder die Werte der Durchsetzungsfähigkeit verraten (derentwegen sie gewählt wurden). Schlechte Karten.

Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?

  • Die Kommunikations-Falle

Kommunikation ist die Essenz jedes sozialen Systems. Durch Kommunikation sind wir miteinander verbunden, lösen wir Probleme, schaffen wir Zukunft, gestalten wir unsere Beziehungen, organisieren wir uns.

Hintergrund jeder gesellschaftlicher Kommunikation ist eine implizite Übereinkunft über ein gewisses Grundverständnis von Bedeutungen, die wir der Sprache geben. Das erleichtert die Kommunikation, denn wir müssen nicht immer klären, was wir mit dem Wort „Baum“ meinen. Das macht ein gewisses gegenseitiges Verstehen möglich, auch wenn Luhmann das für den Ausnahmefall hält.

Zugleich kann diese Übereinstimmung auch brechen. Begriffe können vollkommen andere Bedeutungen bekommen. Etwa der Begriff der Hexenjagt, einst von Arthur Miller geprägt, um die Verfolgung von Kommunisten in den USA zu beschreiben, wird heute von einem rechten Millionär gebraucht, um die Anklagen von Gerichten zu diskreditieren. Sprache und ihre Bedeutungen sind beliebig geworden, die Gesellschaft zerbricht daran. Wenn das so ist dann schwindet auch die Möglichkeit, diesen Umstand mit den Mitteln der Kommunikation zu bearbeiten, wenn wir gar kein gemeinsames Fundament mehr haben, wenn jeder Begriff so oder auch anders verstanden werden kann, sitzen wir in der Falle.

Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?

2. Wer in der Falle sitzt, sieht nur den Käse.

In der systemischen Psychotherapie und Organisationsberatung wird mit einem Phänomen gearbeitet, die als „Beobachtung zweiter Ordnung“ bekannt ist. Damit ist gemeint, dass wir als Menschen fähig sind, uns in eine Beobachtungsperspektive zu uns selbst zu begeben, uns selbst beim Agieren und auch beim Beobachten zuzusehen. Das gelingt nur, wenn wir uns selbst in eine innere Distanz begeben, von der aus wir nicht nur unsere Gegenüber, sondern auch uns selbst in der Interaktion mit anderen, uns selbst in unserer Umwelt, uns selbst im Umgang mit der Umwelt und vor allem unsere immer wiederkehrenden Muster des Verhaltens erkennen können.

Raus aus der Falle kommt man, wenn man sich die Falle vorstellen kann, in der man sitzt

In der systemischen Familientherapie wurde, um die Mitglieder der Familie in eine Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung zu bringen, unter anderem die Methode des zirkulären Fragens entwickelt, dadurch können die Muster in der Familienkommunikation beobachtet und besprochen werden; die Aufstellungsmethode besteht im Wesentlichen darin, dass jemand ein Anliegen mit Repräsentant:innen im Raum aufstellt und sich dann „das Spiel“ ansehen kann; in der Organisationsberatung hat sich – neben vielen anderen Methoden – Action Learning bewährt, um die eigene Organisation zu beobachten und ihre Muster zu erkennen.

In Prozessen der gesellschaftlichen Transformation geht es – wie in allen Formen der Veränderung – zunächst darum, Muster zu erkennen und zu verändern. Das betrifft vor allem Organisationen, die sich mit gesellschaftlicher Transformation beschäftigen – wollen oder müssen: Unternehmen, Institutionen, NGO‘s. Sie brauchen Mittel und Methoden, um sowohl die eigenen als auch die gesellschaftlichen Fallen zu identifizieren. Solche Mittel sind Foren, Konferenzen, Aus- und Weiterbildungen, Bürger:innen-Räte usw.

Solche Räume entstehen laufend, weil der Bedarf nach gesellschaftlichem Diskurs immer größer wird. Aber, das große ABER bedeutet: diese Kommunikation muss neue Unterschiede schaffen. Es genügt nicht, freundlicher, respektvoller, strukturierter miteinander zu reden. Es müssen sich nicht nur die Formen, sondern vor allem die Inhalte ändern. Es sind die genannten (und andere) Fallen, die wir uns ansehen müssen. Es ist nicht (nur) die Untersuchung der „anderen“, derer, die den Transformationsprozess behindern – wir müssen unsere eigenen Beiträge reflektieren.

Das bedeutet: raus aus den gewohnten Blasen, in denen es sich so gemütlich mit Gleichgesinnten Käse essen lässt; rein in ungewohnte Themen und unbequeme Fragen, von denen man gar nichts versteht und bei denen man nur lernen kann und die einem den Käse verderben; auf unbekanntem Gelände mit Menschen zu kooperieren, denen man bisher wenig vertraut hatte.

Ich habe anfangs davon gesprochen, dass wir nur dann schneller vorankommen, wenn wir den Umweg über die Reflexion unserer eigenen Muster verstehen: wie können wir uns am besten daran hindern, wirksam zu werden? Dieser Umweg ist eine Exkursion. Außerhalb der Falle ist unbekanntes Gebiet. Dafür brauchen wir neue Landkarten, neue Kompasse, neue Mindsets und neue Partner:innen. Damit wir nicht immer den alten Käse essen.

Ich habe beschlossen, meine Erfahrungen als systemische Beraterin von Organisationen in den Prozess des gesellschaftlichen Transformierens einzubringen und damit hoffentlich einen Beitrag zur Beschleunigung und Erhöhung der Wirksamkeit zu leisten. Ich habe das meinem Enkel versprochen.

Daher habe ich einige Räume eröffnet, in denen diese Erfahrungen genützt und das gemeinsame Experiment des Lernens über unsere Gesellschaft und unsere Muster gemacht werden können.

  • Im Lehrgang „Leading Transformation“ Link
  • In der Community for Change: Anleitung zur Wirkungslosigkeit  Link
  • Ausblick: forum:transformieren. April 2024 in Wien

Mehr dazu auf meiner Website www.seliger-consulting.net und auf www.communityforchange.at

Ich freue mich auf eine gemeinsame Expedition!

Ruth Seliger