Jänner 2025

Demokratie zwischen Abbruch und Aufbruch

Von Ruth Seliger

Kickl ante portas.

Trump, Meloni, Milei, Orban sind schon da und brechen die demokratische Ordnung ab. Es scheint, als würden sie ganze Arbeit leisten. Es scheint, was wären die Hüter der Demokratie verzweifelt.

Was bricht ab?

Hier einige Gedanken, die in der öffentlichen Diskussion genannt werden: Es bricht

  • der Grundkonsens, dass Demokratie, Menschenrechte und ein friedlicher Umgang mit Konflikten und Macht die Grundwerte der Gesellschaft sind und bleiben
  • das gemeinsam Bild einer besseren oder zumindest guten Zukunft für die nächste Generation
  • die Annahme, dass Kommunikation auf einer gemeinsamen Sinngebung von Begriffen aufgebaut ist und Worte nicht willkürlich mit Bedeutungen gefüllt werden können
  • das Vertrauen in Institutionen und in die Fähigkeit des Staates, Sicherheit zu geben.

Im öffentlichen Diskurs und in der Wissenschaften werden Erklärungen für diese Abbrüche vorgestellt:

  • Ende der Aufklärung: das Bild des Menschen als das eines vernunftbegabten Wesens, und dass Veränderung der Gesellschaft durch Einsicht, Erkenntnis und Bildung entsteht, also das Bild der Moderne, greift angesichts zunehmender Komplexität der Welt nicht mehr.
  • Neue Kommunikationsmedien: Kommunikation ist der Kern jeder Gesellschaft. Veränderung von Kommunikation verändert die Gesellschaft. Die großen Transformationen der Geschichte wurden durch die Entwicklungen neuer Kommunikations-Mittel ausgelöst: Sprache, Schrift, Buchdruck, elektrotechnische Medien (Telegraph, Telefon) bis zu Digitalisierung und zu KI haben die Gesellschaft radikal transformiert.
  • Die Idee der Jugendbewegung der 70er Jahre, dass Transformation ein großer Wurf, ein großes Projekt der „Rettung der Welt“ sein könnte, hat schon länger ausgedient. „Revolutionen“ sind passé. Zumindest die sichtbaren.
  • Der „progressive“ Teil der Gesellschaft ist zu einer konservativen Strömung geworden, zu Bewahrer:innen von Natur und Demokratie, zu Verteidiger:innen von Menschenrechten und Bürgerrechten, die „Brandmauern gegen Rechts“ errichten (1).
  • Grenzen sind wurden mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion abgebrochen. Der Siegeszug des neoliberale Kapitalismus konnte sich grenzenlos über den Globus ausbreiten und Vorstellungen von grenzenlosem Wachstum und grenzenlose Freiheit des Individuums die neue Lehre beherrschen.

Aber es gibt nicht nur Abbruch. Es gibt auch Aufbruch.

Was bricht auf?

In der Phase des Abbruchs entstehen neue Themen, die in der Gesellschaft diskutiert werden:

  • Kooperation: Forschungen zeigen, dass Menschen auf Kooperation ausgerichtet sind. Es war die Überlebensstrategie der Spezies Mensch. Netzwerke und Allianzen entstehen, auch Unternehmen haben – spätestens seit Toyota – die Kraft der Kooperation entdeckt.
  • Die Klimakatastrophe ist ein vollkommen neues Thema im gesellschaftlichen Diskurs. Wir Menschen geben uns einen neuen Platz in der Welt: wir sind kein „Gegenüber“ der Natur, sondern ein Teil davon. Die Klimabewegung verändert die Gesellschaft fundamental (2).
  • Frauen brechen (schon seit langem) auf: die Frage der Geschlechter-Rollen, die Rolle der Frauen in der Gesellschaft und Geschlechtergerechtigkeit sind zu zentralen Themen politischer Auseinandersetzung geworden (3).
  • Ökonomie neu denken: es entstehen neue Konzepte von Wirtschaft, denen neue Paradigmen zugrunde liegen, etwa die Gemeinwohl-Ökonomie.

Abbruch und Aufbruch gehören zusammen. Der Abbruch macht uns traurig, wütend und verzagt. Er ist aber notwendig, um dem Neuen den Boden zu bereiten.

Was kann man tun?

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein)

Transformation ist ein mühsamer Weg, der die eigenen Glaubenssätze, Erklärungs- und Lösungskonzepte, ihre Denkweise und ihr Weltbild infrage stellt.

  • Systemisch denken: Systemtheoretisches Denken löst das technisch-naturwissenschaftliche Denken ab. Es bedeutet, nicht einzelne Phänomene, einzelne Personen und ihr Verhalten, einzelne Erklärungen zu beobachten, sondern auf Zusammenhänge, Muster, Wechselwirkungen zu achten. Diese veränderte Perspektive führt zu neuen Erkenntnissen, Weltbildern und neuen Aktivitäten. Die schwierigste Übung ist, das eigene Denken neu zu denken.
  • Grenzen: Grenzenlosigkeit wird nicht nur von neoliberalen Ideologen, sondern auch von „humanistischen“ Strömungen in der Gesellschaft geschätzt: wir sind doch „alle eins“, wir sind verbunden. Grenzen sind „böse“, sie werden „Gegeneinander“ gegenüber gestellt. Grenzen werden von Progressiven abgelehnt, weil sie von Rechten geschätzt werden: Grenzen gegenüber Fremden, Einwanderern, Andersartigen. Aber: Grenzen sind lebenswichtig für uns alle: ohne Grenzen keine Wahrnehmung, keine Identität, kein „Ich“, das sich mit anderen „Ichs“ zu einem „Wir“ zusammenfinden könnte. Ohne Grenzen keine Kooperation.
  • Reflexion: „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam“, sagt (angeblich) Buddha. In Transformationsprozessen entsteht Druck und der Drang, Dinge und Verhältnisse radikal und schnell zu verändern. Aber der schwierige Prozess der Transformation kann nur gelingen, wenn man innehält, ver-steht und kritisch in den Spiegel schauen kann: welche der eigenen Annahmen, Ziele, Methoden, welche unserer eigenen Muster sind hilfreich und funktional, welche sind ein Teil des Problems?
  • Neue Kooperation, neue Allianzen: Wer sich engagiert, sucht Gleichgesinnte, um Kraft zu gewinnen. Es entstehen Bubbles und Echokammern, die den Blick einengen und zur Verstärkung von Feindbildern führen: „mit denen reden wir nicht, mit denen gibt es keine Kooperation“. Klassiker ist die mangelnde Kooperation zwischen „der Wirtschaft“ und „der Zivilgesellschaft“. Hier common ground zu suchen, beruht auf der Annahme, dass es viele Menschen, Gruppen Organisationen und Initiativen braucht, um einen gesellschaftlichen Wandel in eine Richtung zu führen, der sich von den Veränderungsideen jener, die Demokratie abbauen und abbrechen möchten.
  • Gesellschaftlicher Diskurs: Um den Sprung vom Abbruch zum Aufbruch der Demokratie zu schaffen, bedarf es aller demokratischen Kräfte der Gesellschaft: der öffentliche Diskurs von Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Institutionen. Dieser Diskurs muss organisiert und gestaltet werden. Dann kann er Neues hervorbringen.
  • Das Neue heute schon denken: Während des Abbruchs muss das Neue bereits skizziert werden, das aufbrechen könnte. So entsteht Orientierung und – im Sinne von „präfigurativem Handeln“ – eine Idee des Pfades vom Abbruch zum Aufbruch.

Vermutlich ist diese Liste von Handlungs- und Denkoptionen nicht vollständig aber sie ist ein Anfang. Damit Neues aufbrechen kann, müssen wir selbst aufbrechen.

forum:transformieren: 16.+17.5.2025, Wien
„Demokratie zwischen Abbruch und Aufbruch“
forum:transformieren

(1) Siehe: Ingolfur Blüdorn: Unhaltbarkeit. Edition suhrkamp 2024

(2) Vgl. Bruno Latour und Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Edition suhrkamp 2023

(3) Vgl. Philipp Blom: Die Unterwerfung. Hanser Verlag 2022,
Christian Stöcker: Männer, die die Welt verbrennen. Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit. Ullstein, 2022