Juni 2025

Ver-Stehen – der wichtigste Schritt in der Transformation

Von Ruth Seliger

Wenn du es eilig hast, gehe langsam (chinesische Weisheit)

Wer an Transformation denkt, hat zumeist ein Bild von Bewegung, Aktivitäten und Dynamik vor sich. Transformation wird oft auch als eine Linie, als ein Weg von A nach B gesehen. Beides stimmt nicht. Transformationen sind Prozesse, die aus Phasen des Handelns und aus Phasen des Innehaltens und des Ver-Stehens sowie aus Schlingen, Schleifen, Vor- und Rückschritten bestehen. Das gilt für Transformationen in Organisationen ebenso wie jene in der Gesellschaft.

Prozesse der Transformation brauchen zwischen den Phasen der Bewegung immer wieder Stillstand, Innehalten und Ver-Stehen. Diese Phasen dienen nicht nur der Erholung und dem Durchatmen, sondern vor allem der Orientierung: wo sind wir gelandet, wie sieht es hier aus, was bietet das Gelände, wohin werden wir weitergehen?

Für diese Phasen braucht es eigene Räume, in denen Reflexion und Lernen stattfinden kann. Diese Räume müssen so gestaltet sein, dass in ihnen neue Erkenntnisse gewonnen, produktive Kommunikation möglich ist und neue Optionen des Handelns entworfen werden können. Auch das trifft auf Organisationen und Akteur:innen gesellschaftlicher Transformation zu. Es ist eine zentrale Aufgabe sowohl von Organisationen als auch von gesellschaftlichen Bewegungen, Initiativen oder Organisationen, solche Räume zu schaffen und auszustatten.

In der systemischen Beratung gibt es einige Erfahrung damit.

Systemische Beratung von Organisationen

Wenn in einer Organisation ein „Problem“ definiert wird, wird zunächst versucht, dieses selbst und mit den eigenen Mitteln zu lösen. Bleiben diese Versuche erfolglos, wird (manchmal) Beratung angefragt. Wenn Berater:innen ins Haus kommen, werden ihnen die Probleme als gravierend, dringend und wichtig vorgestellt. Die Erwartung an die Beratung ist, möglichst schnell Lösungen zu finden, damit die Arbeit bald weitergehen kann.

Aber wenn Berater:innen kommen, wird zunächst alles langsamer. Um selbst arbeitsfähig zu sein, müssen sie sich erst einmal ortskundig machen, sich orientieren, Problembeschreibungen und Lösungsideen erfragen, Menschen und Strukturen kennenlernen.

In der systemischen Beratung geht man davon aus, dass Organisationen, die über Probleme klagen, zu deren Entstehung und Erhaltung selbst beitragen.

Zum Beispiel:

In einem Unternehmen wird steigende Unzufriedenheit der Mitarbeiter:innen festgestellt. Daher werden regelmäßig Mitarbeiter:innen befragt, was sie unzufrieden macht und was sie von der Organisation wünschen. Mitarbeiter:innen erwarten nun, dass etwas zu ihrer höheren Zufriedenheit unternommen wird. Immerhin ist man ja befragt worden. Sind die Wünsche der Mitarbeiter:innen aber nicht realisierbar oder scheut die Führung davor zurück, in einer erwarteten Form zu entscheiden, steigt die Unzufriedenheit nach jeder Befragung.

Das Mittel, um das Problem zu lösen, verschärft das Problem. Obwohl es gut gemeint war.

Um sich zu verändern, brauchen Organisationen Räume, in denen sie darüber nachdenken, wie sie ihre Probleme erzeugen, sie müssen sich selbst auf die Schliche kommen.

Die Arbeit der systemischen Beratung besteht vorrangig darin, Räume zu schaffen, in denen man sich in den Spiegel schauen, die eigenen Muster, Glaubenssätze, Prinzipien, Strukturen, Prozesse hinsichtlich des eigenen Beitrags zur Aufrechterhaltung von Problemen reflektieren kann. Es sind Räume des Ver-Stehens und des Lernens und damit Räume der Veränderung.

Systemische Beratung der Gesellschaft?

In Prozessen gesellschaftlicher Transformation engagieren sich viele Menschen, Gruppen und Organisationen für ökologische, soziale oder demokratiepolitische Fragen. Auch sie stehen Problematiken gegenüber, die wichtig und dringend sind, das Bedürfnis, etwas zu tun, aktiv zu werden, ist groß.

Wenn die Anstrengungen und Aktivitäten nicht die gewünschte Wirkung zeigen, kann man auch hier annehmen, dass die Aktivist:innen selbst ein Teil des Problems der Wirkungslosigkeit sind. Oft sind es Glaubenssätze, Welt- und Menschenbilder, Vorstellungen von Strategien, Zielen und Mitteln der Veränderung, die die gewünschte Wirkung behindern.

Auch in Fragen gesellschaftlicher Transformationsprozesse ist Entschleunigung notwendig, um sich in den Spiegel zu schauen und sich auf die Schliche zu kommen: welche unserer Muster sind dysfunktional, welche machen uns selbst zum Teil des Problems? Auch hier ist Entschleunigung störend und angesichts immer drängender werdenden Probleme und immer höherer Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen, herausfordernd. Keine Zeit, keine Zeit. Vor allem aber ist es unangenehm, sich kritisch in den Spiegel zu schauen, wenn man sich auf der richtigen Seite der Transformation wähnt.

Was passiert in den Räumen des Ver-Stehens?

Systemische Beratung zielt auf Veränderung von Kommunikation. Die Grundhypothese ist: Soziale Systeme wie Organisationen und Gesellschaften sind Kommunikations-Systeme. Veränderung, Transformation gelingt nur über Veränderung der Kommunikation. Systemische Beratung ist auf Kommunikation spezialisiert, auf

  • Kommunikations-Inhalte: es geht immer darum, neue Unterschiede des Wahrnehmens, Verstehens, also der Wirklichkeitskonstruktionen oder auch Landkarten zu erzeugen. Wir finden immer das, wonach wir fragen.
  • Kommunikations-Methoden: eines der wichtigsten Instrumente ist Fragetechnik. Fragen beeinflussen die Aufmerksamkeit, regen Suchprozesse an, bringen neue Zusammenhänge und Perspektiven ins Spiel.
  • Kommunikations-Settings, die produktive Diskurse und Dialoge möglich machen. In Zeiten von Digitalisierung, Vereinzelung, Fake News sollen diese Räume Rahmen für persönliche Begegnung, Möglichkeiten des Nachfragens, Aushandelns und der Kreativität sein. Zur Qualität solcher Räume zählt gute Konzeption und kompetente Begleitung der Kommunikation.

Wer etwas bewegen will, muss ver-stehen

Veränderungen in Organisationen und in gesellschaftlichen Transformations-Prozessen erfordern, Lern- und Reflexions-Räume zu schaffen, die eine Insel in der Dynamik und der Turbulenz der Ereignisse und Aktivitäten ist. In diesen Räumen sind Spiegel, Zukunftsbilder, Vergangenheitsbilder, Wegweiser und Schatzkisten untergebracht, die das Lernen unterstützen.

Foto: Ruth Seliger
Erwin Wurm: Albertina Modern 2025 in Wien