Kaum ein Thema emotionalisiert heute so sehr, wie der Begriff der „Grenzen“: grenzenloses Wachstum versus Grenzen der Einwanderung, grenzenlose Freiheit versus Grenzen der Umweltverschmutzung, grenzenlose Macht versus Grenzen von Einfluss. In jeder historischen Epoche, in jeder Kultur wurde und wird darum gestritten, wo welche Grenzen gezogen werden. Noch nie aber hat sich ein gesellschaftlicher Diskurs daran entbrannt, ob man überhaupt Grenzen braucht. Das passiert heute, das ist neu und gefährlich. Wie ist es dazu gekommen?
In den 70er Jahren entstanden zwei Entwicklungen, die zunächst vollkommen unterschiedliche Ziele und Themen hatten:
Rund um den Ökonomen Milton Friedman entstand die neoliberale Doktrin, die die ökonomische und politische Nachkriegsordnung radikal veränderte. Diese Doktrin beruht auf drei Prinzipien: einem Bild des Menschen – des Homo oeconomicus, der lediglich auf seinen persönlichen Vorteil bedacht ist, der zentralen Bedeutung eines Marktes, der sich selbst steuert und wo Eingriffe des Staates radikal abgelehnt werden, und auf der Idee der Grenzenlosigkeit von Wachstum, Handel und Kapitalverkehr. Die neoliberale Doktrin hat sich weltweit etabliert und bestimmt heute die Weltökonomie.
Zur gleichen Zeit entflammte in Palo Alto eine Studentenbewegung, die sich über die gesamte westliche Welt verbreitete und die sich gegen das „Establishment“, die „Institutionen“ und ihre Repräsentant:innen, vor allem Professoren, aber auch „Kapitalisten“ wandte. Grenzenlose „Freiheit“ wurde zum Menschenrecht erklärt. Die Freiheit des Individuums wurde in vielerlei Formen gedacht und gelebt: grenzenlose Selbstverwirklichung, grenzenlose Liebe – „wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, grenzenloser Frieden für alle, Grenzen waren hinderlich, es war alles ver-rückt.
Obwohl beide Bewegungen unterschiedliche Hintergründe und Ziele hatten, verband sie doch die Idee der grenzenlosen Freiheit. Die Verfechter der neoliberalen Ökonomie – im Zusammenspiel mit der Digitalisierung – schufen mit dem Begriff des „freien Marktes“ die Voraussetzungen für die Globalisierung und damit für eine planetare Grenzenlosigkeit; die „Revolutionäre“ der 70er Jahre schufen eine globale Jugendbewegung, der auch heute eine Generation von Menschen folgt, deren Leitbild die „Erweiterung des Ichs“ und die Verschmelzung des Ichs in einem „Wir“ ist.
Der Anspruch auf Grenzenlosigkeit ist heute in aller Munde: „Ich lass mir doch meine Bratwurst nicht verbieten“ (Söder).
Wir müssen aber, um individuell und als Gesellschaft Zukunft zu haben, Grenzen zurückerobern, wir müssen ihre Bedeutung wieder entdecken. Dafür gibt es gute Gründe.
1. Ohne Grenzen keine Welt
Im konstruktivistischen Verständnis beginnt jede Wahrnehmung der Welt mit einer „Grenzziehung“ des Beobachters (siehe George Spencer Brown): um etwas in der uns umgebenden ungeordneten Welt erkennen zu können, müssen wir gedankliche Grenzen ziehen, Unterschiede machen und Ordnung schaffen. Wir werden nicht mit fertigen Bildern über die Welt geboren, wir erlernen sie im Laufe unseres Lebens. Am Beginn steht das Erlernen der Sprache und den Grenzziehungen durch Begriffe: das ist ein Baum – und das nicht, das ist gut – und das nicht. Je mehr Begriffe wir unterscheiden können, umso differenzierter wird unsere Welt und umso sicherer können wir uns in ihr bewegen.
An diese Regel hat sich schon Gott gehalten: Am Anfang war Chaos, das Nichts. Dann erschuf Gott die Welt, indem er sechs Tage lang Grenzen zog: zwischen Tag und Nacht, Himmel und Erde, Meer und Land, Sonne, Mond und den Gestirnen, Tieren und Pflanzen, Mann und Frau. Danach ruhte er sich aus, denn eine Welt und eine Wirklichkeit zu erschaffen, ist anstrengend.
Um als Individuum und als Gemeinschaft überleben zu können, müssen wir Grenzen ziehen und durch Unterscheidungen Ordnung in eine chaotische Umgebung bringen. Wenn wir das nicht können, verlieren wir uns in jeder Hinsicht.
2. Ohne Grenzen kein Leben
Die Grenzen unseres Lebens sind unvermeidlich und der Gedanke daran schmerzhaft. Aber erst das Wissen um die Grenzen des Lebens macht uns das Leben bewusst und wertvoll. In allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gab und gibt es Versuche, die Grenzen des Lebens zu überwinden, etwa durch die Konstruktion eines Weiterlebens im Jenseits, einer ewigen Seele, das Aufgehen in einem spirituellen Rahmen, dem Hinterlassen eines ewigen Erbes.
Man könnte sagen: der Wert unseres Lebens liegt in seinem sicheren Ende.
3. Ohne Grenzen kein Lernen
Lernen ist der Prozess der Veränderung von Grenzen. Lernen trifft immer auf bereits gezogene Grenzen, auf bereits Gelerntes, auf Wissen und Erfahrung. Unter Umständen müssen alte Grenzen – Begriffe, Annahmen, Werte – „entlernt“ werden. Das ist oft anstrengender, als neue Grenzen zu ziehen, denn beim Lernen kommen alte Grenzen, altes Wissen mit dem Neuen in Konflikt. Wer keine neuen Grenzen ziehen will, wer den Konflikt nicht haben will, lernt nicht. Ohne den Prozess des Ziehens von neuen Grenzen, ohne Konflikte, wird es auch keine Entwicklung und keine Veränderung geben.
4. Ohne Grenzen keine Organisation
Organisationen haben Aufgaben, die sie zumeist arbeitsteilig-kooperativ erfüllen: Aufgaben werden in Bereiche geteilt und in neuer Form und in neuen Prozessen zusammengesetzt. Die Frage, wie und entlang welcher Prinzipien die Teilung der Arbeit wahrgenommen wird und welche Kooperationen notwendig sind, beschäftig die Führung und die Beratung laufend, es ist die Kernfrage von Change-Management. Durch Grenzziehungen entstehen Positionen, Funktionen, Prozesse, Kooperationen, Strategien. Über Grenzen muss entschieden werden, damit Menschen Orientierung haben. Grenzziehungen sind Führungsaufgabe.
Die alten Ideen der 70er Jahre tauchen immer wieder in Organisationen auf: Führung sollte verbindend, empathisch, verständnisvoll, integrierend sein. Möglicherweise. Wenn aber Führung bedeutet, Entscheidungen zu treffen und Grenzen zu ziehen, sind diese Erwartungen zumindest nicht nur hilfreich.
5. Ohne Grenzen keine Demokratie
Demokratie ist ein System der Begrenzung von Macht. In Demokratien wird das Paradoxon realisiert, dass Macht durch jene legitimiert wird, über die Macht ausgeübt wird: das Volk wählt seine Herrscher – auf Zeit. Gerade diese Paradoxie führt immer wieder und heute ganz besonders zu teilweise radikalen Grenzverschiebungen von Macht: Machtgrenzen werden verschoben, Gruppen von Macht ausgeschlossen, anderen wird immer mehr Macht gegeben, Macht wird an neue Bedingungen geknüpft. Durch Macht wird die wichtigste Grenze gezogen: wer gehört dazu und wer nicht.
Machtfragen sind in jeder Gesellschaft Fragen von Interessen und Zielen. Ziele sind nur dann wichtig, wenn sie umgesetzt werden können. Dafür braucht man Macht. Die Frage, welche Grenzen in einer Gesellschaft zu setzen sind oder verschoben werden sollen, ist Gegenstand des gesellschaftlichen und politischen Diskurses.
Ohne Grenzen keine Demokratie. Ohne Demokratie keine Grenzen.
Insofern kann man sagen: wer auch immer Grenzenlosigkeit proklamiert, egal ob des Marktes, des Wachstums oder der individuellen Freiheit, gefährdet die Demokratie und auch die Gesellschaft.
Was bedeutet das für die Praxis des Transformierens?
Wer sich mit Transformation beschäftigt, sei das nun als Führungsveranwortliche:r, als Berater:in von Organisationen oder als politische:r Aktivist:inn für gesellschaftliche Transformation, wird um das Thema „Grenzen“ nicht herumkommen:
- Jeder Paradigmenwechsel von einem alten zu einem neuen Prinzip bedeutet eine Verschiebung von Grenzen. Wer sich mit Transformation beschäftigt, muss sich die Frage stellen, wie man selbst zu Grenzen steht: Sind sie ein Problem oder eine Lösung? Davon hängt jedes weitere Handeln ab.
- Wer Organisationen führt und berät und in ihrem Veränderungsprozess begleitet, wird die Funktionalität oder Dysfunktionalität von Grenzen von Macht, Abläufen, Prinzipien, Funktionen, Positionen, Rollen thematisieren, um den Prozess der Transformation zu gestalten.
- Wer sich für die „Transformation“ der Gesellschaft engagiert, hat sich die Auseinandersetzung von ganz großen Grenzverschiebungen vorgenommen. Denn von gesellschaftlichen Transformationen und radikalen Grenzverschiebungen sind alle Menschen in einer Gesellschaft betroffen. Politische Parteien und Gruppierungen müssen Grenzen thematisieren, da gibt es kein Entrinnen. Der politische Kampf ist immer ein Kampf um Grenzen und um die eigenen Vorstellungen. Das Regime Donald Trump führt soeben vor, wie radikal und schnell Grenzen verschoben werden können und wie schmerzhaft das für viele Teile der Gesellschaft ist. Wer sich dem entgegenstellen will, muss nicht die alten Grenzen verteidigen, sondern eigene neue Bilder von Grenzen und deren Nutzen beschreiben: die vielzitierten Visionen und Narrative.
Fazit
Man kann über Grenzen vielerlei denken: dass sie zu weit oder zu eng gesteckt sind, die „richtigen“ Teile ein- bzw. ausgrenzen oder die „falschen“, dass einige Aspekte unseres Lebens vielleicht keine Grenzen haben, etwa die Liebe, die Fantasie oder unsere Träume. Aber man kann Grenzen nicht einfach wegdenken.
Grenzenlosigkeit muss – das ist meine Überzeugung – eingegrenzt werden. Sie ist eine neoliberale Ideologie, die heute ihre destruktive Seite zeigt. Der Prozess des Suchens nach neuen Grenzen ist der Prozess des Transformierens, denn er betrifft, wie ich versucht habe darzustellen, unsere Wahrnehmung, unser Weltbild, unsere Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten und unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Meine Gedanken richten sich an meine Kund:innen aus Unternehmen und anderen Organisationen: Führungskräfte und interne Expert:innen, an meine Kolleg:innen aus der Beratung, und an jene Kräfte und Gruppen, die sich im Prozess gesellschaftlicher Transformation engagieren.
Ich hoffe, meine Gedanken regen dazu an, neue gedankliche Grenzen zu ziehen und dann zu schauen, was daraus entsteht.
Foto: Ruth Seliger